Journal Club: Querschnittslähmung überbrücken

Prof. Dr. Thomas Stieglitz hat mit mir über die Publikation in der Fachzeitschrift Nature diskutiert, die von Zeitungen als ein Durchbruch für die Behandlung von Querschnittsgelähmten gefeiert wurde:

Ian Burkardt ist von der Schulter abwärts gelähmt und kann seine Handbewegungen nicht mehr steuern. Wie im folgenden Video zu sehen ist, erlangte er dank einer Technologie, die in den USA entwickelt wurde, wieder die Fähigkeit, zu greifen und sogar Guitar Hero zu spielen. So beeindruckend diese Demonstration und die Geschichte des Patienten ist, hat die Technologie noch so einige Nachteile. Außerdem sind die einzelnen Komponenten nicht neu, auch wenn Ihr Zusammenspiel eindrücklich ist, erklärte mir Thomas Stieglitz, der selbst innerhalb des Clusters BrainLinks-BrainTools an der Entwicklung von Elektroden für biomedizinische Anwendungen forscht.

 

Im Paper schreiben die Autoren (Bouton et al.): “In this study, for the first time, a human with quadriplegia regained volitional, functional movement through the use of intracortically recorded signals linked to neuromuscular stimulation in real-time” – Wie viel Neues steckt in dieser Studie?

Thomas Stieglitz:

Es ist eine schöne Demonstration des Prinzips, mit dem man versucht, Menschen, die querschnittsgelähmt sind, wieder mobil zu machen. Aber eine revolutionäre Erkenntnis ist es, denke ich, nicht.

Die Elektroden im Kopf sind nichts Neues: Das ist ein so gennantes Utah-Array. Der Chip ist 4 mm lang und breit und etwa 2 mm dick. Dieses winzige Nadelkissen mit 96 Elektroden wird in einer Operation auf des Gehirn aufgelegt. Ein Kabel reicht durch die Schädeldecke. Und: diese Keksdose auf dem Kopf – das ist der Verstärker. Es ist das gleiche System, das bei den klassischen Brain-Computer-Interface-Demonstrationen mit Jan Scheuermann von 2012 zu sehen ist:  das Mittel der Wahl. Es ist nämlich das einzige zugelassenen System, das man bis zu 30 Tage verwenden darf. Das Kabel und der Verstärker müssen dann weg. Die Elektroden werden nach 2 Jahren entfernt.

Der Patient Ian Burkhardt hatte 15 Monate lang an 2-3 wöchentlichen Trainingsstunden teilgenommen, in denen er das Gerät verwenden konnte.

Thomas Stieglitz:

Das ist den meisten Zeitungslesern nicht klar:  Es ist ein Experiment. Der Patient nimmt das Gerät nicht nach Hause und kann es im Alltag verwenden. Trotzdem ist es natürlich ein tolles Erlebnis, diese Fähigkeit wieder zu erlangen – wenn auch nur für kurze Zeit. Den Patienten ist bewusst, dass sie nur Teil einer Studie sind. Menschen, die davon in der Zeitung lesen, oft nicht. Das weckt natürlich große Hoffnungen. Aber, ich denke, erst in etwa 10-15 Jahren wird eine solche Technologie auf dem Markt sein und somit für Patienten zugänglich.

Das Problem bei diesem Aufbau ist zurzeit das Kabel durch den Schädel: Es birgt ein großes Infektionsrisiko. Viele Arbeitsgruppen weltweit arbeiten daran, drahtlose, vollimplantierte Systeme zu entwickeln. Die Elektroden am Arm, die die Muskeln steuern, sind auch so ein Beispiel: Diese Stimulationselektroden, die Muskeln mit Strom erregen, existieren eigentlich seit dem 2. Weltkrieg. Die Steuerung ist in diesem Versuch zwar feiner, trotzdem muss es jeden Tag neu angelegt und justiert werden. Das kann ein querschnittsgelähmter Mensch nicht selbst. Fest implantierte Elektroden, die die einzelnen Muskeln ansteuern, hätten hier einen großen Vorteil.

Auch hier gab es schon recht erfolgreiche Entwicklungen, die man leider weniger erfolgreich vermarkten konnte, weil es zu wenige Patienten gab, denen die Technologie wirklich nützte. Deswegen versuchen Forscher nun vielseitigere Geräte zu entwickeln, die einer größeren Menge von Menschen nützen könnten. Solange diese Technologien also nicht kommerziel verfügbar sind, haben die Patienten leider noch sehr wenig davon.

Quelle:

Bouton et al. (2016)Restoring Cortical Control of Functional Movement in a Human with Quadriplegia. Nature (advance online publication)

Weiterlesen:

http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0363502302680591

http://www.spektrum.de/magazin/das-leben-wieder-im-griff-haben/825797

http://www.spektrum.de/magazin/neuroimplantate/1343308

Foto: Ohio State University/Wexner Medical Center/ Batelle

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